Mit Überschall durch die Luft – diesen Traum hat zuerst die Sowjetunion wahrgemacht. Die Zeitschrift „Flieger Revue“ erinnert an den ersten Überschall-Jet für Passagiere. Dieser hatte zwar zuerst die Lüfte erobert, aber weniger Erfolg als die britisch-französische „Concorde“ gehabt. Beide sind heute in einem deutschen Museum zu bewundern.
Vor etwas über 50 Jahren, am 31. Dezember 1968, startete das erste Überschall-Verkehrsflugzeug zum Erstflug: Die sowjetische Tupolew Tu-144. Das britisch-französische Gegenstück, die „Concorde“, stieg erst am 2. März 1969 erstmals in die Lüfte.
In der Februar-Ausgabe der Fachzeitschrift „Flieger Revue“ erinnert Rainer Göpfert an das sowjetische Flugzeug, das den Westen fast wie der „Sputnik“ mehr als zehn Jahre zuvor überraschte. „Für die Sowjetunion war es eine Prestigefrage, als erste ein Überschallverkehrsflugzeug in die Luft zu bringen“, so der Autor.
Doch am Ende führte nach seinen Worten auch die Tatsache, dass die Zivilluftfahrt des Landes mit der Tu-144 überfordert war, zum Stopp des Programms im Jahr 1983. In dem Jahr stellte eine modernisierte Variante des Überschalljets noch eine ganze Reihe von Weltrekorden auf.
Göpfert schildert die Entwicklungsgeschichte des Flugzeuges ebenso wie die verschiedenen Varianten, dazu die technischen Probleme, und erwähnt auch die Katastrophen. Die Projektierungsarbeiten hätten Anfang der 1960er Jahre begonnen, der entsprechende Regierungsbeschluss sei 1963 erfolgt. Anfangs seien die Arbeiten auf Grundlage des Projekts eines Überschall-Raketenträgers (Tu-135P) erfolgt, dann aber davon gelöst worden.
Die Ausgangslage und die Anforderungen an den geplanten Jet zeigten laut dem Autor, dass ein Flugzeug ähnlich der „Concorde“ die günstigste Variante wäre. Nicht nur das Konstruktionsbüro (OKB) Tupolew, sondern die gesamte Wissenschaft und Industrie der Sowjetunion hätten vor „riesigen, bisher nicht untersuchten wissenschaftlich-technischen Probleme“ gestanden. Das habe bis zur Frage nach den Auswirkungen auf die Atmosphäre gereicht.
Neben dem OKB Tupolew habe übrigens auch ein anderes Konstruktionsbüro, das OKB Mjassischtschew, an einem solchen Projekt gearbeitet. Dafür sei der Bomber M-50 die Grundlage gewesen.
Göpfert zufolge habe es berechtigte Zweifel gegeben, ob die geforderten technischen Leistungen erreicht werden können. Deshalb sei unter anderem ein neues Triebwerk entwickelt worden. Aus mehreren Varianten sei die aerodynamische Form der Tu-144 mit den Dreiecks-Flügeln mit den darunter befindlichen vier Triebwerken gewählt worden.
„Eine Besonderheit war der hydraulisch absenkbare Bug, sodass bei den hohen Anstellwinkeln bei Start und Landung eine ausreichende Sicht gewährleistet war.“
Der erste Prototyp „044“ sei 1965 gebaut worden. Mit zwei umgebauten Jagdflugzeug vom Typ MiG-21 sei gleichzeitig die Tragflügelform erprobt worden. Mit diesen MiG-21l seien auch die Testpiloten der Tu-144 geschult worden.
Der Erstflug am 31. Dezember 1968 hatte laut dem Autor weltweite Bedeutung, „war es doch der erste Flug eines Überschall-Passagierflugzeuges“. Die US-Konzerne Boeing, Lockheed und McDonnell Douglas hatten ebenfalls an entsprechenden Projekten gearbeitet, diese aber eingestellt.
Göpfert beschreibt die Arbeiten an den einzelnen Varianten, die immer wieder aufgetretenen technischen Probleme und die dafür gefundenen Lösungen. Am 20. September 1971 habe ein Vorserienmuster der Tu-144 bei einem Flug nach Taschkent eine Geschwindigkeit von 2500 km/h erreicht.
Ausgerechnet in Frankreich stürzte die erste Serienmaschine der Tu-144 ab. Am 3. Juni 1973 zerbrach der sowjetische Überschalljet in der Luft über dem Luftfahrtsalon in Paris-Le Bourget. Zuvor waren dem Autor zufolge die Piloten angewiesen worden, das Maximum aus dem Flugzeug herauszuholen, um dessen vermeintliche Überlegenheit über die „Concorde“ zu zeigen.
Göpfert schreibt, die entscheidende Ursache für die Katastrophe soll ein französischer Kampfjet vom Typ Mirage III gewesen sein. Diese habe sich nach russischen Quellen von hinten der Tu-144 genähert, um die Canards (ausfahrbare Zusatzflügel) des Jets an dessen Spitze zu fotografieren. „Ihr Auftauchen im Blickfeld der Besatzung führte wahrscheinlich zu einer Schreckreaktion mit Übergang in den Sinkflug.“ Der Absturz mit sechs Toten an Bord und acht Toten am Boden war „ein herber Rückschlag für das Programm und vor allem für das Prestige der Sowjetunion“, so der Autor.
Die Erprobung der Überschall-Maschine sei danach fortgesetzt worden. Obwohl die geforderte Reichweite von bis zu 4500 Kilometern nicht erreicht werden konnte, wurden den Angaben nach 1976 mit den Passagierflügen der Tu-144 begonnen. Einmal in der Woche flogen die Jets in Diensten der staatlichen Fluggesellschaft Aeroflot von Moskau nach Alma-Ata (heute Almaty) in Kasachstan.
Parallel dazu sei weiter an der Technik gearbeitet worden. Ein erneuter Absturz am 23. Mai 1978 bei einem Testflug habe eine der Maschinen zerstört und zwei Testingenieure getötet. Am 31. Juli 1980 sei bei einem Überschallflug eines der vier Triebwerke einer Tu-144 zerstört worden. Die Piloten hätten die Situation aber beherrscht und die Maschine danach sicher gelandet.
Am 1. Juni 1978 sei der Linienbetrieb mit dem Überschall-Jet nach 102 Flügen und insgesamt 3284 Passagieren eingestellt worden. Bis zum Ende des Tu-144-Programms 1983 seien die Passagierflüge nicht wieder aufgenommen worden. Nur eine Tu-144D habe noch Transportaufgaben nach Chabarowsk erledigt.
Allerdings seien nach der Katastrophe von 1978 noch vier weitere Maschinen der Variante Tu-144D gebaut worden, ist in der „Flieger Revue“ zu lesen. Bei der Einstellung des Programms 15 Jahre nach dem Erstflug spielte laut dem Autor eine Rolle, „dass die Zivilluftflotte das Flugzeug ablehnte“. Es habe völlige neue Organisationen des Flugmodus erfordert und es habe im Land selbst keinen Markt für eine solche Überschall-Maschine gegeben. Dazu hätten auch die „exorbitanten Kosten“ beigetragen.
Laut Göpfert wurden insgesamt 16 Maschinen von Typ Tu-144 gebaut. Eine von ihnen, eine Tu-144D, sei Mitte der 1990er Jahre vom Konstruktionsbüro Tupolew gemeinsam mit der US-Raumfahrtbehörde Nasa für etwa 350 Millionen Dollar wieder flugfähig gemacht und zu einem fliegenden Labor umgebaut worden. Die Tu-144LL „Moskwa“ flog den Angaben nach 27 Mal zwischen November 1996 und Februar 1998, zuletzt am 14. April 1999.
Dem Bericht zufolge wird gegenwärtig in Schukowski in der Nähe von Moskau das Tu-144-Exemplar 08-2 restauriert und wieder flugfähig gemacht werden. Tupolew hat laut dem Autor zwar an Nachfolgeprojekten wie der Tu-144DA und der Tu-244 ebenso wie an einer Militärvariante gearbeitet. Diese seien aber nicht verwirklicht worden.
Neue Projekte für Überschall-Jets
„Projektierung, Bau und Nutzung der Tu-144 waren das schwierigste Programm des sowjetischen Flugzeugbaus“, stellt Göpfert fest. „Ungeachtet des letztendlich nicht realisierten Zieles brachte es einen großen Aufschwung für die Luftfahrtindustrie, der sich in den folgenden Jahren positiv auf die Produktion moderner Passagierflugzeuge auswirkte.“
Nachdem die letzte „Concorde“ 2003 landete und inzwischen in einem Museum steht, arbeiten inzwischen Firmen in mehreren Ländern an einem neuen Überschall-Passagierflugzeug. Die US-Firma Boom will ihren Airliner, der kürzlich in „Ouvertüre“ umgetauft wurde, im nächsten Jahr zum Erstflug starten und den regulären Flugbetrieb 2023 aufnehmen lassen. Der europäische Airbus-Konzern ist an dem Projekt AS2 für einen Überschall-Business-Jet beteiligt.
Der US-Konzern Lockheed Martin kündigte im November 2018 an, bald seinen Überschall-Passagierjet X-59 QueSST bauen zu wollen und 2021 zum Erstflug abheben zu lassen. Auch in Russland ist ein neues Überschallflugzeug für den zivilen Gebrauch in Planung, wieder vom erfahrenen Flugzeugbauer Tupolew. Im Januar 2018 hatte Russlands Präsident Wladimir Putin davon gesprochen, dass ein ziviles russisches Überschallflugzeugs auf Basis des Überschall-Bombers Tu-160 entwickelt werden soll.
Im Auto & Technik Museum Sinsheim (Baden-Württemberg) sind übrigens je ein Exemplar der Tu-144 und der „Concorde“ zu bestaunen.
Das Museum ist bereits von der Autobahn A6 aus zu sehen.